Gerade sind wir von einer Freizeit mit Zugewanderten zurückgekehrt. Wir waren mit 55 Leuten vom 20. – 28. März 2016 in einem Selbstversorger-Gruppenhaus in der Nähe von Kassel. Wir, das sind Engagierte von der Rader Flüchtlingshilfe, aus verschiedenen Gemeinden, Vereinen und interessierte Bürger/innen. 40 Zugewanderte waren dabei....
Gerade sind wir von einer Freizeit mit Zugewanderten zurückgekehrt. Wir waren mit 55 Leuten vom 20. – 28. März 2016 in einem Selbstversorger-Gruppenhaus in der Nähe von Kassel. Wir, das sind Engagierte von der Rader Flüchtlingshilfe, aus verschiedenen Gemeinden, Vereinen und interessierte Bürger/innen. 40 Zugewanderte waren dabei.
WIE ENTSTAND DIE IDEE?
Im Herbst des letzten Jahres entstand in der Rader Flüchtlingshilfe die Idee, mit Zugewanderten und Deutschen zusammen eine Ferienfreizeit in einem einfachen Selbstversorger-Gruppenhaus zu organisieren. Die Gründe dafür waren vielfältig: Etliche unserer Zugewanderten waren ja nun schon seit fast 2 Jahren in Rade und hatten 2013/2014 eine sehr schwierige Zeit hier erlebt: kein ausreichendes Angebot an Deutschkursen, nur minimale Hilfestellungen aller Art, keine Kontakte zu Bürgerinnen und Bürgern, keine spürbare Willkommenskultur in der Verwaltung … Und dazu das nervenzehrende Warten, dass das Asylverfahren nun endlich eröffnet würde … Viele Ängste und Unsicherheiten, wie alles weitergehen könnte, viele Traumata des Krieges und der Flucht, die noch nicht aufgearbeitet werden konnten, viel Einsamkeit …
Auf einer Freizeit – so schien es uns – würden wir Zeit für den Austausch haben, käme man intensiver und öfter ins tiefere Gespräch, ohne dass der nächste Termin schon wieder drängt …
FUNDRAISING
Deshalb hatten wir viele, viele Menschen, Gemeinden und auch Unternehmen eingeladen, sich an unserer Freizeitidee zu beteiligen: selbst teilzunehmen, mitzugestalten, für die Übernachtungs- und Essenskosten der Zugewanderten zu spenden und uns mit Gedanken und Gebeten zu begleiten. Wir waren überwältigt von der Spendenbereitschaft vieler Kirchgemeinden in Rade und sagen eine herzliches DANKE an die Katholische Pfarrei, die SELK/Martinigemeinde, die Lutherische Gemeinde, die Ev. Stadtkirchengemeinde Remscheid / Kirchenkreis Lennep und die Freie Ev. Gemeinde Grafweg. Außerdem geht ein DANKESCHÖN an die Stadtverwaltung und auch an private Spenderinnen und Spender. Ohne diese Gelder hätten die Zugewanderten an der Freizeit nicht teilnehmen können.
WER WAR DABEI?
Es waren viele zugewanderte Familien und Einzelpersonen dabei, die bereits zwei oder mehr Jahre in Rade wohnen. Die Teilnehmenden kamen – neben Deutschland – aus Erithrea, Syrien, Afghanistan, Iran, Nigeria, Somalia, Ägypten und Albanien. Insgesamt waren wir 55 Personen zwischen 3 und 72 Jahren.
WAS HABEN WIR GEMACHT?
Das Selbstversorgerhaus lag im Wald und hatte aber auch öffentliche Verkehrsanbindung an die Großstadt Kassel. Vieles lässt sich in dieser Gegend über unsere deutsche Kultur und Geschichte lernen: die Gebrüder Grimm sammelten in diesen Tälern die „Märchen“, die sich die Menschen dort vor 300 Jahren erzählten und schrieben sie auf. Und im 2. Weltkrieg wurden in dieser Gegend Bomben gebaut mit den Zwangsarbeitern des Ostens … und nach der kompletten Zerstörung vieler Stadtteile von Kassel wurde wieder aufgebaut. Auch das hat aus aktuellem Anlass etliche Zugewanderte interessiert.
Wie liefen unsere Tage ab? Um 9:00 Uhr gab es immer das gemeinsame Frühstück. Es wurde in kleinen, jeweils wechselnden Teams vorbereitet. Zu Beginn des Essens haben wir deutsche Kanons gesungen … das hat besonders den Kindern großen Spaß gemacht .. . Nach Abwaschen und Aufräumen gab es jeweils ein Angebot: wir besuchten eine riesige Modelleisenbahnlandschaft in Fürstenhagen; wir erkundeten das Märchenmuseum in Hessisch-Lichtenau; wir meisterten die über 400 Stufen durch das Kasseler UNESCO Weltkulturerbe, den Bergpark; wir schipperten auf dem Flüsschen Fulda; wir folgten dem Themenweg „Hirschhagener Sprengstoffproduktion im 2. Weltkrieg“ und sprachen viel über die Vorgeschichte zum Krieg, über die immer noch andauernden Kriegsauswirkungen (z. B. die Chemikalienbelastung des Grundwassers dort) und unsere Verantwortung heute. Wir machten Spaziergänge durch den uns umgebenden Wald …
Am Nachmittag und Abend haben wir u.a. mit interessierten Zugewanderten Lebensläufe und Bewerbungsschreiben in Deutsch besprochen und geschrieben. Wir haben das Märchen „Frau Holle“ gemeinsam gelesen und in die Teilnehmersprachen übersetzt. Und wir hatten Tanzkurs-Stunden – mit unglaublich viel Spaß an der Sache. Ab 16 Uhr ging das Kochen in jeweils kleinen Teams los, so dass wir um 18 Uhr gemeinsam essen konnten – oftmals Gerichte aus den Herkunftsländern unserer Teilnehmenden. Abends gab es Lagerfeuer und Stockbrot, Trommeln, Singen und Quatschen; einige Male auch eine späte Andacht im Kapellenraum.
Zwischendurch immer wieder Tischtennis-Turniere mit wechselnden Partnern und ein über 4 Stunden dauerndes Volleyballspiel (mit entsprechendem Muskelkater am nächsten Tag ?), Schach- und andere Brettspiele, Wurfspiele, Kartenspiel und Singen.
DAS WICHTIGE
Das wirklich Wichtige war die gemeinsam verbrachte Zeit. Das Zusammenarbeiten in der Küche. Das Toleranzüben, wenn das Gekochte nicht den eigenen Geschmack traf. Die Gespräche zwischendurch. Jemand sagte am Anfang der Freizeit: in meinem Land war der andere Freizeitteilnehmer dort mein Gegner im Krieg … auf der Freizeit mussten wir lernen, den Krieg nicht in unseren Köpfen in Deutschland weiterzuführen. Wir alle – inklusive wir Deutschen – lernten, dass da Menschen vielfältige Sprachen sprechen, vielfältige Begabungen haben, einen unglaublichen Elan, diese neue Heimat mitzugestalten. Es gibt so viel zu tun, um unsere Erde für die nächsten Generationen zu erhalten … dass wir jeden Kopf brauchen und jede gute Idee. Und selbst dann wird es noch schwierig genug werden. – Als ich die „Gegner im Krieg“ einmal beim Essen zusammen sitzen und miteinander essen sah, da wusste ich, dass wir unser eigentliches Ziel der Freizeit erreicht hatten. Als zwei Väter unabhängig voneinander sagten, dass ihre Kinder auf der Freizeit wieder angefangen hätten zu spielen in tiefer Konzentration und Freude – nach Monaten des Fluchttraumas und des Ankommens in diesem fremden Land - – auch da wusste ich, dass jeder Cent des gespendeten Geldes gut angelegt worden war. Als jemand sagte, er fange an zu verstehen, dass es wichtig war, die Freizeit mit Menschen aus so verschiedenen Herkunftsländern gemeinsam durchzuführen und nicht nach Hautfarbe oder Religion zu trennen – da habe ich gewusst, dass Menschen ins Nachdenken gekommen sind und dass viel mehr passiert ist als das Anschauen von Denkmälern und das Entwerfen von Bewerbungsschreiben.
DANK AN ….
Ich kann nicht sagen, wer auf dieser Freizeit mehr gelernt hat: die Deutschen oder die Zugewanderten. Es ist auch nicht wichtig. – Ich danke herzlich dem Vorbereitungsteam: Mengs, Yousef und Mohamed (zugewandert aus Syrien, Ägypten und Erithrea), Dr. Charles Donkor (Flüchtlingskoordinator des Kirchenkreises), Horst Kirschsieper (Lotse der Ehrenamtsorganisation Weitblick), Gabi Nerger und Familie, Niko und Edith Bourginion, Hans Ottmann, Frank Marx und allen anderen, die uns Freizeitausrüstung geliehen, Schokolade gespendet oder anderweitig geholfen haben.
Ein Teilnehmer sagte im Nachhinein: „Wenn ich auf die Bilder schaue, erscheint mir alles wie ein Traum.“ Nach Jahren der Flucht, der Angst und der Unsicherheit kam da vorsichtig Unbeschwertheit, eine Ahnung von Freiheit und Angekommen-Sein zu tage. - Mehr hätten wir im Vorbereitungsteam nicht zu hoffen gewagt. Danke an alle.